Musik als Ars scientia
Die Edgard-Varèse-Gastprofessoren des DAAD an der TU Berlin 2000 - 2006

von Björn Gottstein

Pfauverlag 2006, ISBN 3-89727-313-6


Vorwort des Autors:

Die Poesie der Wissenschaft

»Der emotionale Impuls, der einen Komponisten drängt, seine Partituren zu schreiben«, merkte Edgard Varèse 1936 in einer Vorlesung an, »enthält das gleiche Element von Poesie, das den Wissenschaftler zu seinen Entdeckungen anspornt«, denn »an der Schwelle zur Schönheit wirken Wissenschaft und Kunst zusammen«. Varèse wurde auch deshalb zu einem Kronzeugen der musikalischen Moderne, weil er die Verschmelzung von Kunst und Wissenschaft forderte, die Musik zur »ars scientia« erklärte und der Wissenschaft im Gegenzug einen poetischen Zug bescheinigte. Siebzig Jahre danach ist dieser Prozess der Verschmelzung keineswegs abgeschlossen. Aber im Bereich der elektronischen Musik arbeiten heute doch eine ganze Reihe wissenschaftlich denkender Künstler und künstlerisch denkender Wissenschaftler, die technische und ästhetische Fragestellungen zur Deckung bringen. Diesen Klangforschern und -künstlern ist die Edgard-Varèse-Gastprofessur in erster Linie gewidmet.

Die Professur dient, so sieht die Ausschreibung es vor, der »Vermittlung und kritischen Reflexion neuerer Entwicklungen in der Wechselbeziehung zwischen Medientechnik und Kunst, zwischen elektronischem Studio und Musik«. Damit wird die Nahtstelle zwischen Musik und Wissenschaft, zwischen ästhetischen Visionen und technischen Möglichkeiten in Deutschland erstmals akademisch virulent. Einen vergleichbaren Lehrstuhl hat es bislang nicht gegeben. Das Lehrangebot der Varèse-Gastprofessoren umfasste meist beides: Technik und Ästhetik, Forschung und Geschichte. Der Fokus des Lehrstuhls, der im Frühjahr 2000 von der TU Berlin, dem Berliner Künstlerprogramm des DAAD und dem SFB (heute RBB) ins Leben gerufen wurde, gilt der Computermusik. Da die digitale Technik in der elektronischen Musik heute ohnehin überwiegt, muss der Computer kaum mehr von anderen elektroakustischen Verfahren abgegrenzt werden. Die Spezifika des Computers standen gleichwohl im Zentrum der Lehrpläne und Forschungsprojekte.

Die elektronische Musik steht heute vor einer ganzen Reihe von Fragen: nach Verfahren der Klanggenese und -bearbeitung, nach einer genuinen Ästhetik der technifizierten Kunst, nach den emotionalen Qualitäten maschineller Klanggesten, nach Grenzen und Möglichkeiten der Wahrnehmung und nach dem Nutzen der Historie für den Fortbestand des Genres. Die Gastprofessoren, die das Amt in den ersten fünf Jahren bekleideten, haben all diese Fragen aufgegriffen und in Werk und Lehre vermittelt. Ja, die unterschiedlichen Forschungsschwerpunkte der ersten zehn Varèse-Professoren ergänzen sich zu einem regelrechten Panorama der elektronischen Musik: Software-Entwicklung (Pope, Wishart, Tutschku, Teruggi), Raumklang (De Vries, Teruggi), Mensch-Maschine-Schnittstellen (Eckel, Behrman, Tutschku), Experiment und Subversion (Behrman, De Campo), algorithmisches Komponieren (Koenig, Tazelaar), gesellschaftliche Relevanz (Wishart), elektroakustische Grenzbereiche (De Campo) und Archivierung (Teruggi, Tazelaar).

Wenn nach fünf Jahren ein Blick auf den Verlauf und die hinterlassenen Spuren der ersten zehn Gastprofessoren geworfen wird, dann soll nicht bloß ein Leistungsnachweis erbracht, sondern die Chance genutzt werden, um einerseits die Künstler und Wissenschaftler einzeln zu porträtieren und andererseits allgemeinere, die Elektroakustik betreffende Fragestellungen zur Sprache zu bringen. Dass dies anhand der im Rahmen des Berliner Aufenthalts entstandenen Arbeiten, Werke, Programme, Vorlesungen und Kooperationen aufgezeigt wird, sollte dem allgemeinen Anspruch der Kapitel nicht im Wege stehen. Im Gegenteil: Die Möglichkeit, die elektronische Musik mit all ihren Facetten und Querverbindungen anhand der Varèse-Professur abzubilden, macht deutlich, wie fruchtbar diese Einrichtung heute ist.

Dieses Buch wäre nicht entstanden ohne die Unterstützung der Gastprofessoren selbst, die sich stets gesprächsbereit zeigten und zahlreiche Materialien zur Verfügung gestellt haben. Mein Dank gilt im besonderen Maße Marije Baalman und Kees Tazelaar, die vielfach und selbstlos mit Erörterungen und Materialien ausgeholfen haben. Danken möchte ich außerdem Ingrid Beirer (DAAD) und Folkmar Hein (TU Berlin) für das Vertrauen, die Geduld und die Unterstützung, die sie mir bei der Realisation dieses Projektes gewährt haben.