Das Computermusik - System des ELEKTRONISCHEN STUDIOS
der Technischen Universität Berlin

November 1985
Bearbeiter: Dr. Klaus Buhlert,
Gastprofessor für Elektronische Musik/Computermusik
TU Berlin Inst. für Kommunikationswissenschaft
D-1000 Berlin 12 Str. des 17. Juni 135

 

EINLEITUNG

Für die einen ist der Computer das Symbol der "Big Brother"-Vision, verdammtes oder im anderen Fall Fetisch-Instrument unserer hochtechnisierten Gesellschaft. Für andere wiederum ist er notwendiges Arbeitsmittel, das Routineoperationen mit großer Geschwindigkeit erledigen kann und Raum für kreatives Denken schafft.
Der Computer als Klang-Institution wird von seinen Gegnern als derzeitiger Endpunkt der "Maschinen-Musik" oder "Musik aus der Steckdose" verteufelt, von seinen Anbetern als Inkarnation musikalischer Reproduzierbarkeit verehrt, denn in der Computermusik scheint es heute wenige Begrenzungen bezüglich Menge und Dichte von Parametern zu geben. Selbst größte Orchester sind nicht annähernd in der Lage, die mögliche Zahl akustischer Informationen in der Computermusik oder allgemein der elektroakustischen Musik zu erreichen.

DAS COMPUTERMUSIK-SYSTEM DES ELEKTRONISCHEN STUDIOS DER TU BERLIN

Das Computermusik-System des Elektronischen Studios der TU Berlin wurde aufgebaut, um sowohl in der Forschung und Lehre auf den Gebieten der digitalen Signalverarbeitung von Audiosignalen, der Computermusik und der musikalisch-kreativen Mensch/Maschine Interaktion, als auch die Produktion und Komposition von Computermusik (im weitesten Sinne des Wortes) auf ein internationales Niveau zu bringen.
Unterstützt wurde der Aufbau dieses Systems durch Digital Equipment Corp. und die Technische Universität Berlin.
In der Entwicklung seit 1981 stellt es heute ein vielseitig nutzbares System zur Klangsynthese, -analyse, -verarbeitung dar und wird für Komposition, Aufführungen, zur Forschung in Musik/Akustik und angrenzenden Bereichen, sowie zur Lehre in diesen Bereichen eingesetzt.

Bei der Gestaltung eines solchen Computermusik-Systems ist beim heutigen Stand der Technik folgende Problematik zu beachten:

es kann normalerweise davon ausgegangen werden, dass ein Programm die wohl flexibelste Lösung bei der Klangerzeugung darstellt, allerdings mit dem Nachteil, dass heutige Computer nicht schnell genug sind, komplexere Klänge in Echtzeit zu erzeugen;

spezielle Hardware ermöglicht zwar oft solch eine angestrebte Echtzeit-Generierung von Klängen, ist aber andererseits, verglichen mit einer guten Software, weniger flexibel in der Vielseitigkeit der Möglichkeiten.

Aus diesem Grunde ist es wünschenswert, ein Optimum beider Aspekte zu erreichen, d.h. einen Prozessrechner plus flexibler Software und spezielle Hardware für Echtzeiteinsatz zur Verfügung zu haben.
Ein derzeit optimales Computermusik-System würde demnach ein Prozessrechner System im 'time-sharing' Betrieb, sowie ein sehr schneller Rechner, der für Echtzeitverarbeitung spezielle Hardware steuern kann, darstellen.

Solche Computersysteme sind kompliziert und erfordern beträchtliche Vorarbeiten und Erfahrungen, ehe sie effektiv genutzt werden können. Viele Betriebssysteme zeigen eine Tendenz, Kommunikation mit dem Benutzer mehr einzuengen, als zu erleichtern. Eine Tatsache, die man vielleicht mit dem Begriff 'Inkohärenz' des Betriebssystems bezeichnen könnte (in dem Sinne, dass ein Lernen von 100 Fakten über den Computer nicht hilft, um den 101. Fakt zu verstehen).

Es wäre also anzustreben

a. ein Betriebssystem zu verwenden, dass so 'kohärent' wie nur möglich ist und
b. innerhalb des Computermusik-Systems so wenig wie möglich unterschiedliche Betriebssysteme zu nutzen - idealerweise nur ein einziges.

Das Computermusik-System des Elektronischen Studios besteht aus den folgenden 3 Hauptbestandteilen:

1. Prozessrechner VAX 11/780 unter 'kohärentem' time sharing Betriebssystem.
2. Echtzeitorientierter Rechner mit einfachem Betriebssystem
3. Spezielle Hardware für Echtzeit-Klangerzeugun.

Beim Aufbau dieses Systems kann man in folgende drei Schritte unterscheiden:

PHASE 1: Einrichtung eines echtzeitorientierten kleinen Rechnersystems auf der Basis eines "ABLE"-Computers und entsprechender Hardware für Echtzeit-Synthese ("SYNCLAVIER"). Dieses System wurde Oktober 1981 in Betrieb genommen.

PHASE 2: Einrichtung eines 'time sharing'- Computersystems basierend auf einem DEC VAX 11/780 Rechner mit entsprechender Peripherie unter DEC's ULTRIX-32 (entspricht UNIX) Betriebssystem. Dieses VAX-System unterstützt mehrere Nutzer gleichzeitig, ermöglicht Prozessrechneranwendungen, Programmentwicklung, non-realtime Klangsynthese, Klanganalyse und -verarbeitung. Der Rechner wurde erstmals im Juni 1985 unter ULTRIX-32 in Betrieb genommen.

PHASE 3: Diese Phase beinhaltet die Entwicklung von spezieller digitaler Hardware, um eine echtzeitorientierte Synthese, Analyse und Verarbeitung von Klängen zu ermöglichen. Eine große Rolle spielen hier auch Erkenntnisse aus dem Bereich der Mensch/Maschine Interaktion, um z.B. notwendige Eingabesysteme (graphische Displays, Joysticks u.a. interaktive Kontrollsysteme) für den VAX- Rechner und das SYNCLAVIER-System.

Im Augenblick wurden Phase 1 und Phase 2 realisiert, Phase 3 ist im Stadium der Entwicklung.

Die Audio-Standards des Computermusik-Systems im Elektronischen Studio basieren auf dem augenblicklichen Stand der Technik. Die Digital/Analog-Wandlereinheit besitzt vier voneinander unabhängige Ausgangs-Audio-Kanäle. Jeder Audio-Kanal erlaubt Abtastfrequenzen von 50 KHz. Die Auflösung beträgt 16 Bits.
Die Analog/Digital-Wandlereinheit besitzt zwei unabhängige Eingangs-Audio-Kanäle gleicher Qualität wie die 4 Ausgänge. Audiosignale können also quadrophon bei einer Bandbreite von 0 bis 20 KHz bei einem Signal/Störabstand von mehr als 90 dB übertragen werden.

Das Computermusik-System des Elektronischen Studios der TU Berlin besitzt über 900 MB Speicherkapazität an Plattenspeicher der VAX 11/780 und des "Synclaviers". Über 450 MB sind für die ausschließliche Speicherung von Klängen und Musik vorgesehen. Aus einer Überschlagsrechnung kann man leicht erkennen:
Eine Platte der Kapazität 450 MB kann etwa 450 MB/2 16-Bits-Samples aufnehmen.
Bei einer Abtastfrequenz von 48 KHz ist es demnach möglich, etwa 2250 Sekunden eines Audio-Signales voller Bandbreite in Stereo abzuspeichern, d.h. etwas mehr als 37 Minuten.

CARL-SYSTEM UNTER ULTRIX-BETRIEBSSYSTEM

Als Software zur Verarbeitung von Audio-Signalen wurde ein komplettes System des Computer Audio Research Laboratory (CARL) der University of California ausgewählt, da dieses System unter UNIX-Betriebssystem entwickelt wurde und voll lauffähig unter ULTRIX-32 ist. Zusätzlich beinhaltet die CARL-Software alle wichtigen Programmsegmente für ein komplettes Computermusik-System im non-realtime Betrieb.
Grundlage der CARL-Software ist die Programmiersprache C, die einige interessante Möglichkeiten insbesondere für die Forschung im digitalen Audio-Bereich bietet. C als Programmiersprache liegt zwischen sogenannten 'low level'-Sprachen, die sich z.B. für den Entwurf von Betriebssystemen etc. eignen und sogenannte 'high level'-Sprachen, die bestimmte automatisierte Möglichkeiten bieten, um den Programmieraufwand zu verringern und die Programmstruktur zu vereinfachen.

ANALYSE UND SYNTHESE MUSIKALISCHER KLÄNGE

Musikalische Klänge können in der Hauptsache durch vier komplexe interaktive Attribute beschrieben werden:

Tonhöhe (Frequenz)
Lautstärke (Schalldruck bzw. Ausgangsspannung)
Klangqualität, Timbre (Spektrum, dynamisches Verhalten etc.)
Räumliche Zuordnung (Energieverteilung, Laufzeiten etc.).

Computer und spezielle Hardware können diese Parameter mit hoher Genauigkeit kontrollieren, eine Tatsache, die Interesse und Forschungsaktivitäten bei der Anwendung in der zeitgenössischen Musik schon in den frühen 60-ziger Jahren dieses Jahrhunderts auslöste.

Im Gegensatz zur Sprache kann der interessierende Frequenzbereich in der Musik nicht auf einen Bruchteil des menschlichen Hörbereiches begrenzt werden, der sich bis Frequenzen um 20 KHz ausdehnt. Solche hohen Frequenzen tragen stark zur Klangqualität (oder Timbre) eines Instruments oder elektronisch erzeugten Klanges bei.
Die Dynamik der Lautstärke in der Musik wird von den enormen Möglichkeiten des menschlichen Ohres bestimmt, Dynamikunterschiede wahrzunehmen. Ein Faktor, der auch bei der räumlichen Beurteilung, z.B. des Nachhalls, von großer Bedeutung ist. Zeitlich-dynamische Änderungen der Charakteristika musikalischer Klänge spielen eine Schlüsselrolle bei der Beurteilung, sind also wichtige Informationsträger instrumentaler Eigenschaften.

Viele natürliche Klänge können hinsichtlich dieser Eigenschaften in Einschwingvorgang (Attack), eingeschwungenen Zustand (Sustain) und Ausschwingvorgang (Decay) unterteilt werden. Die Analyse von Frequenz- und Amplitudenänderungen hat gezeigt, dass die einzelnen Bestimmungsgrößen eines Klanges nicht nur komplex sind, sondern sich typischerweise auch unabhängig voneinander verändern.

Zusätzlich wird Musik gewöhnlich in akustisch festgelegter Umgebung wahrgenommen. Mit den akustischen Eigenschaften des Umfeldes verändern sich normalerweise der Ort, die relative Bewegung und die Ausbreitung des Klanges einer Quelle für den Hörer. Einen wichtigen Parameter stellt dabei auch der Nachhall eines Raumes dar.
Ausgehend von diesen Anforderungen kann man die Menge zu verarbeitender Informationen in der mit Computern generierten Musik abschätzen:

Bei einer Abtastrate von 40 KHz, die man aufgrund von Filterproblemen für eine ausreichende Qualität durchaus auf 50 KHz erhöhen kann, einem ausreichenden Dynamikbereich mit geringen Verzerrungen auch bei kleinen Amplituden, d.h. etwa 16 Bits pro Abtastwert und zumindest vier voneinander unabhängigen Audio-Kanälen führt das zu einer Informationsbandbreite von 3,2 Mio. Bits/Sekunde, die zu verarbeiten bzw. zu speichern sind. Verringert man diese Übertragungsrate, führt das zur Minderung der Klangqualität.

In einem Blockdiagramm eines von der Konzeption her "vollständigen" Computermusik-Systems werden Prozesse dargestellt, die in Echtzeit, d.h. ohne Zeitverzögerung bei der Berechnung der Abtastwerte, erfolgen sollten. Eine Forderung, die beim augenblicklichen Stand der Computertechnologie oft noch nicht oder nur mit sehr großem Aufwand durchführbar ist.

Verschiedene Funktionen wie z.B. Kompositions-Programme (besser: Hilfsprogramme für die Komposition) oder Analyseprogramme für akustische Parameter sind auch ohne größere Probleme als Nicht-Echtzeit-Prozesse durchführbar.

Zwei grundlegende Probleme bei der digitalen Klangsynthese sind:

Sehr große Datenmengen sind notwendig, um qualitativ hochwertige Klänge im Zeitverlauf darstellen zu können, d.h. schnelle und effiziente Soft- bzw. Hardware ist nötig.
Einfache und zugleich leistungsfähige Software oder Bedientechnik (das gilt natürlich ebenso bei der Analyse) im Bereich der Mensch/Maschine-Schnittstelle ist notwendig, um komplexe Klangstrukturen zu beschreiben.

Prinzipiell kann man bei der Synthese von Klängen in drei Anwendungsbereiche unterscheiden

- DIREKTE SYNTHESE
Der Anwender legt innerhalb bestehender Musiksoftware (MUSIC V, MUSIC-11 etc.) sein Synthesemodell und die geeigneten Parameter zur Steuerung fest oder er programmiert sein eigenes Modell. Dieses sogenannte "Orchester" muss anschließend mit der Notenliste (Partitur) verbunden werden.

- AUF ANALYSE BASIERENDE SYNTHESE
Real existierende Klänge werden mittels geeigneter Verfahren analysiert. Die bei solch einer Analyse gewonnenen Parameter zur Steuerung werden bei der folgenden Klangsynthese als Eingabewerte benutzt (z.B. Vocoder-Techniken).

- KLANGABTASTUNG (MUSIQUE CONCRETE KONZEPTION)
Naturklänge werden digitalisiert und mit dem Computer weiterverarbeitet, ohne dass Daten analysiert oder resynthetisiert werden müssen. Dieser Anwendungsbereich überschneidet sich sehr stark mit den der Signalverarbeitung angewendeten Verfahren.

Während die beiden ersten Methoden seit Beginn der digitalen Klangsynthese die wichtigere Rolle in der computerunterstutzten Musik spielten, findet seit einigen Jahren eine Umorientierung in der Musiktechnologie auf sogenannte Sampling-Verfahren, das bedeutet digitale Speicherung von Klängen, statt. Diese Umorientierung wurde durch weiterentwickelte Computer-Technologie, insbesondere von Speichersystemen möglich.

Um Echtzeit-Klangsynthese zu ermöglichen wurde immer wieder versucht, die Anzahl der Parameter, die eine Klangerzeugung steuern, zu reduzieren und dennoch über ein vereinfachtes Modell optimale Ergebnisse bezüglich der Klangstruktur eines Computer-Instrumentes zu erhalten. Es entstanden aus dieser Schwierigkeit heraus Synthesemodelle, die hinsichtlich ihres Parametersatzes für die Hardware des Rechners optimiert wurden. Diese Modelle leiden aber andererseits oft in ihrer Anschaulichkeit der Steuerungsparameter und deren Wirkung auf das Klangresultat. Zusammengefasst lässt sich sagen, intuitives Arbeiten bei der Klangsynthese sollte den kreativen Prozess unterstützen, steht aber bei Echtzeit-Prozessen oft hinter Zeitproblemen in der Wichtigkeit zurück.

COMPUTER IN DER MUSIK

Etwa 30 Jahre sind seit den ersten Versuchen vergangen, Computer in der Musik anzuwenden. Verbunden mit sinkenden Kosten in der Computertechnologie ist dieser Einsatz, insbesondere bei der Klangerzeugung, inzwischen selbstverständlich geworden.
Komponisten, die sich dem Computer als Hilfsmittel zuwenden, suchen nach größerer Freiheit des Ausdrucks, nach neuen Klängen, die sich von herkömmlichen orchestralen und instrumentalen Realisationen unterscheiden, nach Möglichkeiten zur direkten Umsetzung der Idee in Musik und nach Genauigkeit sowie Reproduzierbarkeit der von ihm gewählten musikalischen Strukturen.

Parallel zu dieser Entwicklung spürt man im Lager der traditionellen Musik aufgrund eines sogenannten "kulturellen Bewusstseins" oft Ablehnung bei jeglicher Auseinandersetzung mit solch neuen Arbeitstechniken, oft von einem staunenden Seitenblick auf die Vielseitigkeit dieser Hilfsmittel verbunden.

Ich möchte es hier noch einmal klar ausdrücken: der Computer in der Musik ist kein Universalinstrument. Andererseits ermöglichen Auseinandersetzungen mit musikalischen wie auch technischen Grenzen dennoch interessante Möglichkeiten, deren Ausgangspunkt niemals puristisches Fetisch-Denken sein sollte, sondern überlegte Einordnung in ein historisch gewachsenes Instrumentarium.

Charles Babbage, der Vater des heutigen Computers, träumte bereits Anfang des 19. Jahrhunderts von seiner "Analytical Engine", einer Maschine, die aus Tausenden von zusammengeschalteten, komplex miteinander verschachtelten Zylindern eine erste Form künstlicher Intelligenz darstellen sollte.

Lady Ada Lovelace, die Tochter Lord Byrons, war in einem Absatz ihrer Memoiren der Hoffnung, dass solch eine Maschine neben Zahlen auch Tonhöhen oder harmonische Kombinationen verarbeiten könnte. Somit in der Lage wäre, Musikstücke jeglicher Komplexität und Ausdehnung zu schaffen. Allerdings folgt danach der Zusatz: von denen wir wissen, wie sie zu ordnen sind.

Ob solch ein Zusatz, der die Entwicklung mechanischer Intelligenz offensichtlich kritisch beurteilt, seine Berechtigung hat, kann vielleicht die Forschung der nächsten Jahre auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz zeigen.

Möglicherweise sind wir von Zielen in der Künstlichen Intelligenz oder auch bei der Erzeugung und Verarbeitung von Strukturen und Klängen in der computergestützten Musik diesen berühmten Steinwurf entfernt. Deutlich wird aber immer wieder, dass nach Durchbrechen einer Barriere plötzlich andere sichtbar werden.