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Zusammenarbeit mit Gastkomponisten

 Shinohara, Kelemen, Haubenstock-Ramati, Thärichen, Hartig, Mamangakis, Henze, Krenek, Gäste von der HfM

Die Zusammenarbeit mit Gastkomponisten war während der 60er Jahre ein verhältnismäßig seltenes Ereignis. Diese Tatsache gründete sich zu einem Teil auf Winckels Forderung nach Teamarbeit, zum anderen aber auch auf die Ausbildung eines Studiostils, an den sich Externe im Prinzip anpassen sollten. Konzeptuelle Überschneidungen der Kooperations-Projekte mit den ästhetischen Schwerpunktsetzungen des Studioteams waren daher für die Realisierung solcher von außen herangetragener Vorhaben günstig.

Die DAAD-Stipendiaten Makoto Shinohara und Milko Kelemen

Die Komposition Personnage des japanischen Komponisten Makoto Shinohara basiert ausnahmslos auf Sprach- und Körperlauten und ordnet sich damit zunächst relativ problemlos ein, denn, wie noch an anderer Stelle ausführlich zu zeigen sein wird, sind im Elektronischen Studio schwerpunkthaft Sprachkompositionen kreiert worden. Shinohara arbeitete allerdings weitgehend alleine, nachdem ihn Rüfer in die technische Anlage des Studios eingeführt hatte. Das Endprodukt ist dementsprechend eigenständig: es geht um menschliche Lautäußerungen, die nicht immer sprachlichen Ursprungs sein müssen.

In der Programmnotiz heißt es:

»Ein Mensch kann als ein Musikinstrument betrachtet werden, das eine sehr reiche und feindifferenzierte Klangwelt umfaßt: Vokale, Konsonanten, Sprechen, Singen, Pfeifen, Lachen, Weinen, Zungenschnalzen, Husten und anderes, außerdem Händeklatschen und Fußstampfen, physiologische Geräusche wie Herzschlag und Atemgeräusch.«

Das Ausdrucksrepertoire tritt hier gebündelt in Erscheinung, durch zeitweilige Dominanzen bestimmter Äußerungen formal gegliedert. Diese künstlerische Absicht stand allerdings im Kontrast zu der vom ›Arbeitskreis‹ bevorzugten Verarbeitung von Gesprochenem als natürlichem, in sich strukturiertem Ausgangsmaterial.

Die Aufführung von Personnage konnte eine eindringliche Wirkung entfalten, was sicher nicht zuletzt der optisch angereicherten Präsentation zu danken war: Die durch starke farbige Beleuchtung von vorn als lebendige Schattenrisse vergrößerten Bewegungen des Mimen Günther Weber verstärkten den konzentrierten akustischen Eindruck des Tonbands erfolgreich. [1]

Wolfgang Burde schrieb:

»Shinoharas kompositorisches Verfahren hat gelegentlich fast durchleuchtende, psychodiagnostische Züge, und das bezeichnet zugleich die Stärke, aber auch den Ausdruckshorizont des Stückes. Man starrt in den besten Augenblicken gebannt und beklommen auf diese akustisch-optische Selbstdarstellung eines Menschen.« [2]

Weitere Beweggründe für die Zusammenarbeit mit Shinohara mögen die Kooperation mit dem Berliner Künstlerprogramm des DAAD [3] und die für Herbst 1968 geplante »Internationale Woche für experimentelle Musik« gewesen sein. Bei dem erwarteten internationalen Publikum sollte kompositorische Vielfalt präsentiert werden.

Neben Shinohara war im Vorfeld zum Kongreß auch der DAAD-Stipendiat Milko Kelemen aus Jugoslawien zu Gast im Studio. Beide Stücke, die Personnage von Shinohara und die Konzertfassung für Baßklarinette und elektronische Klänge eines Fragments der Oper Die Pest von Kelemen — als Der Belagerungszustand am 13. Januar 1970 an der Hamburgischen Staatsoper uraufgeführt — wurden bei dieser Gelegenheit erstmals präsentiert, ebenso ein Fragment des Blacherschen Duodramas Ariadne.



[1]  34 Shinohara hat später am Institut für Sonologie der Reichsuniversität Utrecht eine neue Version des Stücks hergestellt und die TU-Version, ungeachtet des Erfolgs bei der Uraufführung, ganz aus seiner Werkliste zurückgezogen.

[2]  35 Wolfgang Burde: »Wegweiser zum Unerhörten«. Der Tagesspiegel, 11. Oktober 1968 (Nr. 7019), S. 4.

[3]  36 Makoto Shinohara war von Dezember 1966 bis Juli 1968 Gast des Künstlerprogramms.


Persönliche Kontakte: Roman Haubenstock-Ramati und Werner Thärichen

Die Arbeit mit externen Komponisten kam vor 1968 häufig über persönliche Kontakte von Winckel und Blacher zustande. Roman Haubenstock-Ramati kam 1966 nach Absprache mit Winckel (und mit Unterstützung des DAAD) für die Realisation von Zuspielbändern zu seiner Oper Amerika an das Elektronische Studio. Dabei wurden zum Einsatz von in der Partitur vorgesehenen größeren Blechbläser-Massierungen, die mit dem Opernensemble live nicht zu realisieren waren, Montagen aus unverfremdeten Bläserklängen hergestellt.

Werner Thärichen, der langjährige Solopauker der Berliner Philharmoniker war sowohl mit Winckel als auch mit Blacher bekannt. Er realisierte 1968 mit Unterstützung von Rüdiger Rüfer Tonbandeinspielungen für sein Oratorium Der 139. Psalm. [4]


[4]  37 In frühen Werklisten ist auch noch eine Musik auf Pauken von Thärichen als Produktion des Elektronischen Studios der TU aufgeführt. Dieses Stück entstand jedoch beim Sender Freies Berlin. Manfred Krause berichtet, Winckel habe bezüglich der technischen Realisation eine beratende Funktion ausgeübt. Daß das Stück eigentlich keine TU-Produktion ist, geht auch aus einem Gespräch der Autorin mit dem Komponisten am 4. Oktober 1993 hervor.


Heinz Friedrich Hartig

Mit einer einzigen Ausnahme haben alle Gastkomponisten nur eine einzige Komposition im Studio produziert. Die Ausnahme ist der Komponist Heinz Friedrich Hartig, der streng genommen auch nicht als Gast gelten kann. Schon Ende der 50er Jahre hatte er regelmäßig im Elektronischen Studio experimentiert. Er war 1947 Boris Blacher begegnet und stand seitdem zu diesem in engem Kontakt. An der Hochschule für Musik hatte Hartig seit 1948 eine Stelle und wurde 1955 zum Professor ernannt. Er unterrichtete Gehörbildung und Musiktheorie und war bis zu seinem Tod Leiter der Tonmeisterabteilung der HfM. Dadurch und über Blacher mag der Kontakt zum Studio zustande gekommen sein.

Von Hartig sind einige Dokumente erhalten. Ein kurzes Klavierstück für die von Manfred Krause gebaute Tonmühle und ein Tonband mit Probeaufnahmen zur Raummusik sind Zeugnisse seiner Arbeit vor 1960. Aus der Zusammenarbeit mit Dieter Braschoss und Manfred Krause (damals noch Studenten) ging 1961 ein handlungsunterstützendes Zuspielband für die von den Berliner Festwochen in Auftrag gegebene Oper Escorial hervor, die im selben Jahr in der Akademie der Künste uraufgeführt wurde. Eigentlich sollte bei dieser Gelegenheit die Tonmühle, mit der man ein Monosignal über 10 Lautsprecher rotieren lassen konnte, zum Einsatz kommen. Technische Mängel verhinderten jedoch die Ausführung. Das Zuspielband fertigte man in gedanklicher Nähe zur »Musique concrète« des Pariser Studios um Pierre Schaeffer aus Geräuschen. Unter anderem haben Krause und Braschoss ein Hundegeheul durch tieftransponiertes — d. h.mit der Tonbandmaschine verlangsamtes — Möwengeschrei simuliert. Die Tonbandeinspielung war eher als akustische Kulisse gedacht.

1964/65 produzierte Heinz Friedrich Hartig das Zuspielband für sein Oratorium Wohin im TU-Studio. Es wurde als »Abschlußkonzert« des 18. Internationalen Heinrich-Schütz-Festes Berlin am 9. Mai 1965 in der Philharmonie uraufgeführt. In dem Programmheft erläutert Heinz Friedrich Hartig die Thematik des Oratoriums:

»Die inhaltliche Anlage des Oratoriums geht aus von Grundsituationen, die das menschliche Dasein im XX. Jahrhundert in einer fast kontinuierlichen Steigerung auszeichnen: Vereinsamung, Beziehungslosigkeit, Angst, Zweifel, Einsicht in die Vergeblichkeit des Handelns, Mißachtung des Mitmenschen und jeder Kreatur, entstanden aus der Absage an die Wirksamkeit eines göttlichen Gesetzes. Aus dieser Ausweglosigkeit oder der Unfähigkeit zu einer festen Orientierung entsteht — von ihm selbst dazu geschaffen — der Mensch als das »verlorene, gezeichnete Ich«, ausgesetzt in die Leere einer fragwürdigen und dauernd gefährdeten Existenz. Möglicher Ausweg ist der Versuch der »Rückwendung« zu einer erneuten Bindung an eine dem Menschen übergeordnete göttliche Kraft; mit den Worten Reinhold Schneiders: ›die Rückkehr zu Gott‹ als der eigentlichen geschichtlichen Aufgabe des Menschen.«

Ausschlaggebend ist der Abschnitt der Tonbandeinspielung, in dem die zentrale Frage »Wohin« in einem Chorgeflecht gestellt wird. Für die Herstellung dieser Stelle wurden Sprachbearbeitungstechniken verwendet, die für Rüfer und den ›Arbeitskreis‹ typisch sind: Verchorung von einzelnen Worten zu Geflechten (als strukturierende Technik) und Frequenzumsetzung (um Sprache klanglich umzufärben). Die Nähe von konsonantischen Sprachlauten zu Schlagzeugklängen ist als klangorientierte Kompositionsidee in den Einspielungen auskomponiert.

Aus der längeren Zusammenarbeit mit Hartig ergaben sich Wechselwirkungen. In der Frühzeit regte seine Vorstellung einer Raummusik den Bau der erwähnten Tonmühle an; dafür wurden von ihm selbst, aber auch von Blacher kleine Stücke geschrieben. Das letzte Stück Wohin wiederum ist von Stilmerkmalen des ›Arbeitskreises‹ geprägt.


Nikos Mamangakis

Nachdem die intensiven Vorbereitungen für die Weltausstellung beendet waren, öffnete sich das Studio mehr nach außen. In der ersten Hälfte des Jahres 1970 realisierte der griechische Komponist Nikos Mamangakis — Stipendiat des Berliner Künstlerprogramms des DAAD —, von Rüdiger Rüfer unterstützt, sein Konzept Parastasis (Vorstellung) für Sopran-Stimme bzw. Querflöte und Tonband. Die Komposition wurde am 21. September im Rahmen der »Arbeitstage für Musik« der Gruppe Neue Musik uraufgeführt. Das formal klar gegliederte Stück (Dauer 26 Minuten) sucht eine Verschmelzung zwischen Live-Stimme und Elektronik, bei deutlich politischer Aussage.

»›Parastasis‹ von Mamangakis schließlich ist engagierte Musik: eine dreiteilig angelegte, breit ausgesponnene Komposition für Elektronik und Flöte alternierend mit Gesang — bukolisch-gefühlvoll der erste, mit massiven Klangsalven den Einbruch von Gewalt markierend der zweite Teil, aus dem sich als dritter, mit unverbildet jugendlicher Naturstimme gesungen, die Klage des Io aus dem Drama ›Der gefesselte Prometheus‹ von Aischylos löst. Das alles ist, zumal im elektronischen Part, so differenziert gearbeitet, daß es der szenischen Aufbereitung — wie sie hier, bei abgedunkeltem Saal, nicht ganz glücklich dargeboten wurde — eigentlich nicht bedurft hätte.« [6]


[6]  40 Rezension von Sybill Mahlke, Der Tagesspiegel, 23. September 1970.


Hans Werner Henze

Ein weiterer auswärtiger Künstler, der erfolgreich im Studio arbeitete, war Hans Werner Henze, der im April 1971 die Tonbandeinspielungen zu seinem Musiktheater Der langwierige Weg in die Wohnung der Natascha Ungeheuer realisierte. Textgrundlage ist die gleichnamige Sammlung von Gedichten von Gastòn Salvatore.

Rüfer berichtet von etwa 15 Arbeitstagen, während derer Henze und er in einer Art improvisatorischer Zusammenarbeit das Zuspielband herstellten. Henze schreibt dazu:

»Die Partitur schreibt Bruitage vor und verlangt im einzelnen die elektronische Verarbeitung von:  Stimmen (Menschenmenge)

               Straßenlärm, dunklem und hellem

Beatmusik

               Militärmusik

               einem Akkord aus meiner Sinfonia Nr. 6

               Vibrationen eines Flexatons

               Autohupen

               einem 14stimmigen Cluster.

Ein paar Freunde halfen mit, um in den Januartagen 1971 in der Gegend des Berliner Bahnhofs Zoo Straßengeräusche aufzunehmen, und sie lieferten auch das Material, aus dem später eine vielstimmige Volksmenge gemacht wurde, sie lasen Zeitungstexte in verschiedenen Tonhöhen und Tempi auf Tonband. Wir arbeiteten in dem recht dürftig ausgestatteten Studio der TU, mit Hilfe des Technikers Rüdiger Rüfer. Die Dürftigkeit unserer Produkte störte uns nicht, das Ganze sollte (unter anderem) etwas von arte povera haben.« [7]

Zur Handlung ist zu bemerken, daß sich der langwierige Weg in die Wohnung der Natascha Ungeheuer im Kopf eines Berliner Studenten des Jahres 1971 vollzieht, der den Entschluß faßt,

»sich an der allseits erwarteten Revolution zu beteiligen.[...] In elf Phasen vollzieht sich eine Gedanken-Odyssee, die vor allem Zweifel über die bisher verfolgte Strategie sowie von Verzweiflung über die an sich selbst erfahrenen Widersprüche und Frustrationen bestimmt ist.« [8]

Das in der Bruitage — Geräuschkulisse — verwendete Klangmaterial steht gewissermaßen für die Außenwelt, wahrgenommen in einer inneren Vorstellungswelt, die durch die Klangverfremdungen dargestellt ist. Die Stimme der Natascha Ungeheuer [9], deren Wohnung — als Metapher für die Revolution — das Ziel der Bemühungen ist, kommt ausschließlich vom Band — charakteristisch verfärbt ist sie weder greifbar noch erreichbar. Rüfer erläutert in seinem Realisationsprotokoll auch die Verfremdungstechniken, mit denen diese Stimme bearbeitet wurde:

»Filterung — z. B. Kammfiltereinstellung am Albisfilter und elektronisch oft rhythmisch im Durchlaßbereich variierte schmalbandige Filterung. Hierdurch ist vor allem der Hall der weiblichen Stimme an mehreren Stellen charakteristisch verfärbt worden.« [10]


[7]  Hans Werner Henze: »Natascha Ungeheuer — Ein Versuch über den Realismus«, in: Musik und Politik. Schriften und Gespräche 1955-1984 (Erweiterte Neuausgabe). München: dtv, 1984, S. 155 f.

[8]  Peter Petersen: »Hans Werner Henze — sein Leben, sein Denken, seine Musik«, Beiheft zur CD Hans Werner Henze. Vokalwerke, Frankfurt, Deutsche Grammophon, (LC0173) 473653-2-473660-2.

[9]  Auf dem Tonband eingesprochen von Elfriede Irral.

[10] Rüdiger Rüfer: »Der langwierige Weg in die Wohnung der Natascha Ungeheuer« 25. März 1971, S. 2.


Ernst Krenek

Ganz anders verhält es sich mit der 1962 entstandenen unvollendeten Elektronischen Musik nach einer per Post gesandten Partitur des Komponisten Ernst Krenek: Sie steht ästhetisch isoliert, ohne Berührungspunkte mit dem Studiostil, denn sie ist seriell komponiert und wurde nach Kreneks Anweisungen von Rüfer gänzlich durch Addition von Sinustönen hergestellt, ähnlich der Arbeitsweise im Kölner Studio des WDR. Rüfer, für den die Elektronische Musik von Krenek das erste größere Realisationsprojekt war, knüpfte später an die dort geforderten Arbeitstechniken an, indem er bei der Herstellung tonhöhenfixierter Generatorklänge für Blachers Kompositionen auch verschieden ausgeformte Tonbandanschnitte verwendete, um charakteristische Einschwingvorgänge zu erzeugen.

Entstehungsumstände und Spurensuche zu Ernst Krenek - TU-Studio:

Wann und wie der persönliche Kontakt nach Berlin zustande gekommen ist, läßt sich nicht mehr genau rekonstruieren. Fritz Winckel und Ernst Krenek sind sich jedoch spätestens 1961 anläßlich einer Podiumsdiskussion zur elektronischen Musik [11] begegnet, sie kannten sich aber höchstwahrscheinlich schon früher, denn der Kompositionsbeginn der Elektronischen Musik ist auf Kreneks Partitur mit 1960 datiert [12].

Der frisch eingestellte Tonmeister Rüdiger Rüfer übernahm auf Anregung von Winckel die Ausführung; ohne direkten Austausch mit dem Komponisten, denn Krenek schickte Partitur und die Realisationsanweisungen aus den USA mit der Post. Obwohl Rüfer die teilweise recht mühselige Realisation der vorhandenen Partiturseiten schon 1962 abschloß, kam es erst zwei Jahre später bei der »Woche der experimentellen Musik« 1964 zur ersten öffentlichen Aufführung des Fragments, allerdings nicht als Uraufführung ausgewiesen. Eine zweite gleichermaßen unauffällige Vorführung des Tonbandes — dazu auch noch in einer höchstwahrscheinlich nicht autorisierten veränderten Fassung — erfolgte bei der »Internationalen Woche für experimentelle Musik« 1968. [13]

Seitdem erklang die Studie nur noch sehr sporadisch in der Öffentlichkeit, mit einigem Recht, denn die Komposition blieb Fragment und wirkt kompositorisch und klanglich unausgereift. Dennoch ist sie das erste rein aus elektronischen Klängen hergestellte Stück des Elektronischen Studios der TU Berlin. Zudem erinnert seine Machart an den Stil der seriellen Studien, die in den 50er Jahren im Kölner WDR-Studio entstanden, und illustriert so die ästhetisch isolierte Stellung der Produktion von Gastkomponisten im Berliner Studio.

In den internen Werkverzeichnissen des Elektronischen Studios ist Kreneks Komposition unter dem Titel »Serielle Studie« [14] verzeichnet. Im Autograph hatte sie Ernst Krenek ursprünglich mit »Skript für elektronische Musik« bzw. »elektronisches Musikprojekt« überschrieben, Titeln, denen — einer Skizze angemessen — deutlich der Charakter des Vorläufigen anhaftet. Sie gleichen insofern nicht den oft inhaltsvollen Bezeichnungen, die Krenek für seine vollendeten Stücke üblichweise wählte [15]. Die Vermutung, die Komposition sei unvollendet, wird durch weitere Einzelheiten erhärtet: Auf der letzten Partiturseite ist durch die Ziffer 3 ein dritter Abschnitt angekündigt; in einer internen Werkliste ist der Titel mit dem Zusatz »Erster Teil« versehen.

In die Werklisten seiner Biographien hat das von Krenek entworfene »elektronische Musikprojekt« keinen Eingang gefunden; an keiner Stelle werden Kompositionsprojekt oder -produkt noch überhaupt der Kontakt zum Elektronischen Studio der TU Berlin erwähnt. Nicht einmal in Rainer Wehingers ansonsten gründlich recherchiertem Artikel über die frühen elektronischen Kompositionen von Krenek [16] findet sich ein Hinweis. Auf eine Stellungnahme des Komponisten selbst kann zur Klärung der Umstände gleichfalls nicht zurückgegriffen werden.

Das »Skript« wirkt zwar vorläufig, erweckt jedoch nicht den Eindruck, flüchtig dahingeworfen zu sein. Es scheint für ein größer angelegtes Stück bestimmt, zu dessen Fertigstellung es wahrscheinlich aus einer Reihe von Gründen, die im folgenden als Möglichkeiten angedeutet werden, nicht gekommen ist.

Biografischer Hintergrund

Der österreichische Komponist Ernst Krenek, geboren 1900, war 1938 ins Exil gegangen, hatte sich 1957 endgültig für Kalifornien als seine Wahlheimat entschieden und lehnte Angebote, wie etwa die Leitung der Hochschule für Musik in Berlin, die dann später Boris Blacher übernahm, ab. Dennoch besuchte er Deutschland und Österreich nach dem Krieg häufig und nahm unter anderem in leicht unregelmäßigen Abständen bis 1959 als Dozent an den Darmstädter Ferienkursen teil. Dort kam es 1954 zu einer Begegnung mit Herbert Eimert und Werner Meyer-Eppler. Dieser Kontakt mündete schließlich 1955 in einen längeren Aufenthalt

Kreneks in Köln, wo er im elektronischen Studio mit der Unterstützung des Tonmeisters Heinz Schütz den ersten Teil seines schon 1947 konzipierten Werks Spiritus Intelligentiae Sanctus, Pfingstoratorium realisierte. Dieses vorläufige Endprodukt wurde zusammen mit dem Gesang der Jünglinge von Karlheinz Stockhausen am 30. Mai 1956 uraufgeführt. Nach Kreneks Rückkehr in die USA kam es nicht zu einer Wiederaufnahme und Fertigstellung der Komposition am Kölner Studio [17], da Krenek nunmehr als konservativer Komponist galt. Bei der Vergabe von Studiozeit und finanzieller Unterstützung wurde jetzt den jüngeren Komponisten der Darmstädter Avantgarde, in diesem Fall Luigi Nono, der Vorrang gegeben. Auch vom Mailänder Studio erhielt Krenek 1957 eine Absage. Daß Krenek die elektronische Musik als neues kompositorisches Feld ernst nahm und durchaus Ambitionen mit diesem Medium verband, ist durch seine Biographen verbürgt. So schreibt Claudia Maurer Zenck über ihn:

»Zwar kam er zur seriellen Technik über die elektronische Musik, aber nicht die intellektuelle Neugier ... führte ihn zur Elektronik, sondern die primär sinnliche Erfahrung drängte ihn dazu, sich selbst im neuen Medium zu versuchen.« [18]

Das Projekt für eine elektronische Musik in Zusammenarbeit mit dem TU-Studio fiel mit einem Wendepunkt in Kreneks Leben zusammen: nach einer Phase der Unentschlossenheit, ob er doch nach Europa zurückkehren solle, und der Reibung mit einer jungen Komponistengeneration, die sich deutlich von der Generation der Väter der Neuen Musik abzugrenzen begann, ergaben sich plötzlich auch in den USA Möglichkeiten der Arbeit mit elektronischer Musik. Krenek verfügte dann in seinem kalifornischen Domizil über ein eigenes kleines Studio mit einem Buchla-Synthesizer, wo er einige Kompositionen mit Tonband fertigstellte. Aus der Phase vor 1962 läßt sich allerdings die starke Motivation herleiten, die dazu geführt haben mag, trotz vieler Probleme, die sich aus der Abwesenheit vom Realisationsort ergaben, auf das Angebot einer Zusammenarbeit mit dem TU-Studio einzugehen.



[11]  »Kann man serielle Musik hören?« (Roundtable-Gespräch mit Claus-Henning Bachmann, Ernst Krenek, Franz Willnauer, Fritz Winckel), Melos 28 (1961) Heft 7/8, S. 223-229.

[12] Ernst Krenek befand sich 1960/61 auf einer Halbjahres-Rundreise in Europa.

[13] Im offiziellen Tagungsplan ist Kreneks Stück am 9. Oktober als einziges nicht aufgeführt, sehr wohl aber auf einem hektographierten Handzettel zum Konzert — allerdings ohne Erläuterungen.

[14] Dieser Titel ist laut Rüdiger Rüfer auf Fritz Winckel zurückzuführen, von einer Absprache mit Krenek ist nichts bekannt. Dennoch paßt der Titel insofern, als die Entstehung der Komposition in Kreneks serielle Phase fällt, die durch die Erfahrung mit elektronischer Musik und die Arbeit im Kölner Studio inspiriert war. Offenbar war es für Krenek zunächst außergewöhnlich, eine elektronische Musik zu schreiben. Für Winckel war dies nichts Auszeichnendes, im Gegensatz zu Krenek hatte für ihn die Kompositions-Technik Bedeutung.

[15] Zum Beispiel La Corona, Horizons circled oder Sestina.

[16]  Rainer Wehinger: »...es klingt, als wärs ein neuer Anfang«, Ernst Krenek, (Studien zur Wertungsforschung 15), Wien, Graz, 1982, S. 189-201.

[17]  Das Pfingstoratorium wird, obwohl unvollendet, anders als die »Serielle Studie« allgemein  als autarkes Stück in  Kreneks Werkliste eingeordnet.

[18]  Claudia Maurer Zenck: Ernst Krenek — ein Komponist im Exil, Wien: Lafite, 1980, S. 274.


Gäste von der HfM

Im Winter 1971/72 hatten erstmals Kompositionsstudenten der Hochschule für Musik Gelegenheit, im Elektronischen Studio musikalische Projekte zu verwirklichen. Der japanische Komponist Kiyotomi Yoshizaki, damals Student bei Blacher, produzierte im November/Dezember 1971 in enger Zusammenarbeit mit Rüdiger Rüfer die Komposition Ein Haschen nach Wind. Da die Uraufführung schon im Januar 1972 in Gent stattfinden sollte, war die Zeit begrenzt. Den zweiten Abschnitt der zweiteiligen Komposition stellte Rüfer nach Angaben von Yoshizaki sogar alleine fertig, weshalb sich die beiden Teile deutlich hörbar voneinander unterscheiden. Problematisch für die Realisation war in diesem Fall auch, daß Yoshizaki eine vorgefertigte Partitur in traditioneller Notation mit Zeitangaben mitbrachte. Der Tonmeister berichtet:

»Ich fing dann an, das so zu machen, und er war dann ganz erstaunt, wie lang eine Sekunde ist.« (Rüfer)

Roland Pfrengle — zu jener Zeit Schüler von Heinz Friedrich Hartig — realisierte die Zuspielbänder für seine Komposition Links-Rechts in der Zeit von Dezember 1971 bis Januar 1972 weitgehend alleine. Die Uraufführung fand im Januar 1972 in der Akademie der Künste statt.

Als letzte von Rüdiger Rüfer im Elektronischen Studio der TU Berlin betreute Arbeit wurde Ende 1973 Agnus Dei von Heinz Werner Zimmermann realisiert, als elektronischer Teil der Komposition Missa Profana.


Zusammenfassung

Die Zusammenarbeit mit Gastkomponisten war insgesamt nicht durch ein Interesse an einer kontinuierlichen künstlerischen Auseinandersetzung motiviert; eine gegenseitige Befruchtung konnte bei nur einer Produktion pro Komponist (Ausnahme: Heinz Friedrich Hartig) nicht entstehen. Das Verfahren glich eher einer Serviceleistung des Instituts, vergleichbar mit den Auftragsstücken, die das Team vielfach erledigte: Zuspielbänder zu Ballett- oder Theaterproduktionen (Anastasia, Schwanensee, Androclos und der Löwe), Musiken und anderes Klangmaterial zu diversen Filmen von zum Teil auch technischem oder medizinischem Inhalt (Isotopenmeßtechnik, Forschung für die Gesundheit). Im allgemeinen mußten solche Arbeiten als Dienstleistungen des Studios bezahlt werden. In ähnlichem Bewußtsein entstanden Stücke mit DAAD-Stipendiaten oder Zuspielbänder zu Opern bzw. Oratorien von Gastkomponisten.

Der überproportionale Anteil von Zuspielbändern zu Opern bzw. Musiktheater und Oratorien (Escorial, Wohin, Amerika, Der 139. Psalm, Die Pest, Der langwierige Weg in die Wohnung der Natascha Ungeheuer) zeigt außerdem auf, daß nicht solche Komponisten, die sich speziell mit elektronischer Musik befassten, im Elektronischen Studio arbeiteten, sondern eher solche, die in bestimmten Einzelfällen Zuspielbänder vorsahen. Diesen Gastkomponisten ging es in der Regel also nicht um die Entwicklung einer dem elektronischen Medium angemessenen Sprache, sie hatten meist in ein Gesamtkonzept gebettete Vorstellungen, die sie im Studio realisierten.

 [jg]

 Shinohara, Kelemen, Haubenstock-Ramati, Thärichen, Hartig, Mamangakis, Henze, Krenek, Gäste von der HfM