Helga de la Motte-Haber

50 Jahre Musique concrète

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Die Geburtsstunde der Musique concrète, die der 5.10.1948 mit der Ausstrahlung von Pierre Schaeffers etudes de bruits markiert, bündelt mehrere Entwicklungen. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts hat die Vielfalt der Klänge und die Buntheit von Geräuschen eine große Faszination auf Künstler ausgestrahlt, die sich in der Erfindung neuer Instrumente oder neuer Spielweisen ausdrückte. Auch die neuen Medien wurden zur Herausforderung. Film und Photographie zeigten bereits, wie sehr diese neuen Medien das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit veränderten und neue ästhetische Reflexionen erforderten. Die Einführung des Rundfunks war von allem Anfang an von der Diskussion um eine spezifisch radiophone Kunst begleitet, wobei sehr früh der Reichtum aller Klänge und nicht nur der Ton der Instrumente bedacht wurde. Walter Ruttmanns "Weekend" von 1930 (zwar mit filmischen Mitteln realisiert) ist ein Hörstück, dessen Material aus der Alltagswelt stammt. Die Quellen der "Sintesi per il Teatro Radiofonico" von Filippo Tommaso Marinetti sind heute noch schlecht erschlossen. Klang, Sprache und Musik sollten in diesen Radio-Theatern vereint werden. 1933 hatte Marinetti seine Ideen in einem Manifest über die zukünftige Rundfunkkunst niedergelegt.

Die Verwendung von Alltagsklängen und Geräuschen bei Pierre Schaeffer war nicht neu, wohl aber die ästhetischen Anschauungen, die den Umgang mit dem neuen Material prägten. Die Musique concrète entstand in Frankreich zu einer Zeit, da dort der Surrealismus das Denken prägte. Dem objet trouvé das in der surrealistischen Dichtung und Malerei durch neue Kontextualisierung erst zu einer sinnvollen Erscheinung jenseits der Ansichten täglicher Routine wurde, ist das objet sonore zu parallelisieren. "Gefundene Klangobjekte" speicherte Pierre Schaeffer in geschlossenen Rillen von Schallplatten (eine Vorform des Looping) und machte sie zur Grundlage neuartiger Kompositionen. Die surrealistische Collage weicht von anderen Montageformen ab, die in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts entwickelt wurden, weil sie wie organisch gewachsen erscheint. Integrativ gewirkt sind auch die ersten Stücke von Pierre Schaeffer. Rhythmische Verbindungen spielen dabei eine große Rolle.

Der Begriff konkret war in den 20er Jahren bereits ein verbreiteter Begriff. Theo van Doesburg hatte ihn gebraucht und auch Wassily Kandinsky, um die abstrakte Malerei zu charakterisieren und dabei vor allem deren Verzicht auf ein illusionäres Abbild. Die abstrakte Malerei wurde als konkret empfunden, weil sie sich auf ihr Material (die Farbe) beschränkte. Die Musique concrète ist ebenfalls nicht mehr beschriftetes Papier, das zum Klingen gebracht werden muß, damit man versteht, was der Komponist ausdrücken wollte. Der Klang selbst spricht, sinnlich unmittelbar. Schaeffer übernahm das Wort konkret und präzisierte zusätzlich seine Neukonzeption durch die Wortprägung "chosage" als Gegensatz zu language. Die Dinge (les choses), nicht die Ideen über sie, werden vermittelt; allenfalls sind Anstrengungen möglich, diesen Dingen ihre Geheimnisse zu entreißen, indem neue Perspektiven aufgezeigt werden. Bei den Klangobjekten hieß dies, durch Veränderungen (z.B. durch Verlangsamung und Verschnellerung) ihre innere Struktur freizulegen.

Die Musique concrète zielt auf Abstraktion, was allein schon dadurch bewirkt wird, daß der Klang seinem konkreten Herkunftsort beraubt wird. Aber das Verhältnis konkret – abstrakt ist neu definiert, wie Pierre Schaeffer schon 1942 (Esthétique des Arts Relais) darlegte. Die traditionelle Kunst materialisiert eine Idee, während die neuen Medien, das Radio wie der Film, von konkreten Materialien zur Idee zu gelangen versuchen. Pierre Schaeffer, Ingenieur und Literat, der sich selbst nie als Komponist bezeichnete, beeinflußte tiefgreifend die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts. Rein äußerlich trug dazu auch die schnelle Hinwendung von Komponisten (wie Pierre Schaeffer oder Luc Ferrari) zur Arbeit mit dem konkreten Klang bei. Dabei wandelten sich die ursprünglichen ästhetischen Konzeptionen zwangsläufig. Jedoch bietet das Begriffspaar konkret - abstrakt eine recht gute Möglichkeit für eine grobe Positionierung. Klang, das konnte doch auch jenseits seiner stofflichen Qualitäten die daran haftenden oder damit assoziierten Verweise meinen, die neu verfugt werden konnten. Mit klingenden Bildern, Hörfilmen und klingenden Diapositiven verwischen sich die Übergänge der Musique concrète zum Hörspiel. Wichtig wurde auch ihre Verbindung mit dem experimentellen Film. In der ersten Hälfte der 50er Jahre wurden solche Bedeutungsaspekte bei den nur auf Struktur bedachten Komponisten elektronischer Musik mißtrauisch betrachtet. Von den Schnüfflern, wie einmal die konkreten Musiker genannt wurden, gingen jedoch schon nach sehr kurzer Zeit wichtige Impulse auf die elektronische Musik aus.

Die Mikrophonkunst der Musique concrète wandelte sich ohnehin schnell zum Lautsprecherkonzert. In Paris wurden sehr früh Experimente zur Verteilung und Wanderung des Schalls im Raum vorgenommen. 1973/74 entwickelte François Bayle dann das sogenannte Acousmonium, ein Lautsprecherorchester, mit dem Klänge und Klangbilder im Raum bewegt werden können. Bayle spricht seitdem auch von acousmatischer Musik, deren dominierendes Element die Bewegung ist, die den Eindruck schwebender Räume erzeugt. Er vertiefte und veränderte die philosophischen Fragestellungen, die Pierre Schaeffer aufgeworfen hatte. War die Musique concrète einmal phänomenologisch an den Klangerscheinungen orientiert, so lassen sich die Werke von Bayle unter ontologischen Gesichtspunkten "lesen´: Das Sein wird zur Erscheinung.

Die Musique concrète markiert den Anfang des modernen Soundsampling, den einer eigenständigen Radiokunst und des Sounddesigns. Mannigfaltige Anregungen sind von ihr ausgegangen. Das Symposium versuchte, auf diese geschichtlichen Hintergründe einzugehen und sie mit Neuentwicklungen der Gegenwart zu verbinden. Einen wichtigen Aspekt stellte die Frage dar, welche neuen Rezeptionsformen eine Musik erfordert, die nur zum Hören gedacht ist und nicht in traditioneller Weise analysiert werden kann. Integriert sie nicht doch auch oft dem Hören visuelle Momente? Und wie ist es um die Neudefinition des schöpferischen Subjekts bestellt? Solche unterschiedlichen Aspekte anzusprechen und teilweise nur andeuten zu können, zeigt Entwicklungsmöglichkeiten für die Zukunft auf.