Ausschnitt aus "Werte / Werke"
Vortrag im ICEM Essen am 14.5.2009
Folkmar Hein, ehemals TU Berlin

2. Raum-Werte

Stereo & Surround & Industriestandards vs. EM

Zunächst werfen wir einen Blick auf ein achtkanaliges Werk, das schon von seinem Konzept her eine diskrete Struktuierung der einzelnen Spuren vorsieht. Jede Spur vertritt eine Klangrepresentanz, die unabhängig von den anderen Spuren ist; es gibt in diesem Sinn weder eine Stereofonie, wo üblicherweise linker und rechter Kanal ein "Stereopanorama" mit einer typischen Korrelation bilden, noch andere Korrelationen zwischen beliebigen Kanälen.

Schauen wir uns jedoch "typische" EM-Produktionen an, die wegen ihrer stereofon aufgenommenen Klangquellen immer korrelierte Signale aufweisen, so fällt schon auf den ersten Blick auf, dass paarweise Strukturen vorliegen (siehe Bilder unten mit mehreren typischen Sessions!) - echte Surroundaufnahmen bzw. mehrkanalig aufgenommene Klänge sind eher selten. Eine Folge ist, dass man es in der Regel mit "Stereopaaren" zu tun hat.

Schauen wir uns Bilder von Sessions an, deren Stereostrukturen auch in ihrer 8-kanaligen Version deutlich werden (bitte stellen Sie das Browserfenster so breit ein, dass man die Bilder nebeneinander sieht!):

1. "Strindberg" (Robert Normandeau):

2. "studi & speaker" (Franz Martin Olbrisch)

jeweils links sind alle 8 Kanäle gezeigt;

rechts erkennen wir die "geraden" (2, 4, 6, 8) Kanäle, die über die "ungeraden" (1, 3, 5, 7) Kanäle gelegt
jetzt erkennt man die Abweichungen besser, die farbig erscheinen

man beachte: wegen der sehr groben Auflösungen zeigen die Stereopaare ähnliche Strukturen, aber sie sind im Detail nicht gleich (sie klingen ja "stereo"!).
Man erkennt auch, dass in der zweiten Session deutlich weniger reine Stereopaare verwendet werden (daher sieht das Bild insgesamt "bunter" aus!).

Daraus ergibt sich zwangsläufig ein "Links-Rechts"-Denken: der linke Kanal bleibt links, der rechte rechts. Daher erkennen wir leicht eine Zuordnung bei mehrkanaligen Werken, deren Lautsprecheranordnung "paarweise links-rechts" erfolgt.

Und es ergibt sich ein Zuordnungsproblem, wenn wir eine überzeugende oktofone Zuordnung mit Berücksichtigung des Centerkanals in einem Industrie-Surround-Standard anstreben. Sehen wir uns eine solche Zuordnung an:


Wenn man die Surroundstandards betrachtet (5.1, 6.1, 7.1), so ergeben sich zwei Probleme:

Natürlich weiß jeder, dass Surroundstandards für das Kino und eine frontale Bildprojektion gedacht sind, die sich auch akustisch frontal orientieren und die Surroundkanäle eher zweitrangig einstufen; eine in der EM übliche und nach allen Seiten gleichberechtigte Orientierung ist überhaupt nicht gemeint und vorgesehen.

Nun stellt sich die Frage: warum nutzt die EM diese eher unglücklichen Industriestandards trotzdem (es sind inzwischen zahlreiche EM-Werke auf DVD und SACD erschienen, z.B. auch die TU-Jubiläums-DVD)?
Sind diese Standards womöglich gar nicht so wichtig? Sind andere Aspekte im Vergleich dazu viel wichtiger (etwa das Ambiente, die Aufführungsbedingungen, ...)?

Zunächst müssen wir festhalten: die Kunstproduktion nimmt die technischen Möglichkeiten nicht aus der Sicht der Techniker / Wissenschaftler / Theoretiker wahr, sondern ganz praktisch aus der eigenen Perspektive, die erfahrungsgemäß ganz andere Schwerpunkte legt und sehr überraschend "technikfern" sein kann! Dies in mehrfacher Hinsicht:

Alternativen haben einige EM-Komponisten noch folgendermaßen gefunden:

Komplexe Raumklangwerke mit im Saal rundum verteilten Musikern wie Nonos Prometheo sind, so absurd es ist, auf Audio-CD in Stereo erschienen (inzwischen kamen Surroundversionen heraus, die eben ein bisschen schöner als stereo sind, aber natürlich auch nicht dem beabsichtigten Geschehen des Werkes und den Vorstellungen des Komponisten wirklich nachkommen)!! Solche Veröffentlichungen stellen im besten Fall nur eine Dokumentation dar! Die konsumierende Gesellschaft sollte diese Veröffentlichungen lieber nicht als authentisch akzeptieren! In mehr oder weniger einschneidender Weise gilt dies für alle Werke, die von originaler Mehrkanaligkeit auf Stereo reduziert werden!
Die Aufgabe eines professionellen Archivs ist natürlich die, originale Werkversionen in ihrer Mehrkanaligkeit zu erfassen und weiterhin spielbar zu halten (über Tonträger, Abspielmaschinen, Lautsprecher, Computer, Software, Partituren etc.); das ist eine schwierige Aufgabe, denn man müsste eigentlich die musealen Stadien einfrieren (also etwa in genügend keinen Abständen das ganze Akusmonium der INA-GRM Paris oder den Klangdom des ZKM! Ein gigantisches Unterfangen!!).

Der Sinn von Mehrkanaligkeit; Raumbezüge, Raumempfinden

Ich hatte soeben auf den Umstand verwiesen, dass die Stereomaterialien eine mehrkanalige Produktion erheblich in eine insgesamt Links-Rechts-Orientierung einschränken. Lassen Sie uns folgende Funktionsprinzipien für Lautsprecher finden und auf Mehrkanaltauglichkeit überprüfen:

  1. der Lautsprecher ist Teil eines Instrumentationskonzeptes und wird als Musikinstrument aufgefasst; er bezieht eine feste Position im Raum - wie ein Musiker; er bewegt sich nicht und verlässt seinen Platz nicht; es können auch mehrere "Lautsprechermusiker" auftreten
    (Beispiel: Mark Applebaum Pre-Composition (2003)13'27 [8-Kanal])

  2. der Lautsprecher beschreibt eine diskrete Klangquelle (mono), stellt einen akustischen Ort dar (Lautsprecherfunktion in sehr vielen Klanginstallationen)

  3. der Lautsprecher beschreibt einen diskreten Klangcharakter und fungiert als Paarteil in einem Links-Rechts-System bzw. bewirkt zusammen mit anderen LS-Paaren eine Tiefenstaffelung zwischen nah und fern (akusmatische Musik)

  4. ein Lautsprecher bewirkt zusammen mit möglichst gleichen anderen LS eine physikalisch berechnete räumliche Wahrnehmung in der Horizontalen bzw. Vertikalen (Klangdom, mehrkanalige EM-Darstellung) bezogen auf einen "sweet spot". - Dies ist die Standardsituation der mehrkanaligen Darbietung von EM

  5. Mischung von 3. und 4. ist der typische Fall beispielsweise unseres Inventionen-Festivals


  6. ein Lautsprecher ist Teil eines Linien- oder Flächen-Arrays (WFS - Wellenfeldsynthese) und hat in der Regel keine diskrete Funktion mehr, sondern wirkt als ein Teil einer Gesamtheit von hunderten, meist kleinen Lautsprechern.

    Flächenarray der Klanginstallation "Soundbits" von Robin Minard, Inventionen 2002, Stadtbad Oderberger Str.

Nun entsteht die Frage, ob diese unterschiedlichen Funktionen zu einem neuen bzw. anderen Hörerlebnis nachhaltig beitragen können, das uns in die Zukunft blickend hoffen lässt, auch die kommenden Generationen zu interessieren.


Raum und Bewegung

Bereits oben werden Argumente geliefert, dass die Raumwahrnehmung aus der Perspektive des Hörenden und nicht aus der Perspektive des Entwicklers stattfindet (sozusagen "was wir zu hören haben"). Der Raum selbst erscheint uns als jener, in dem kleine bzw. rege Veränderungen in der Zeit stattfinden (das sind Bewegungen):

kleine Veränderungen im Sinne von

rege Veränderungen im Sinne von

bewegten Klangobjekten, die naturgemäß vom Ohr und allen anderen Sinnen äußerst aufmerksam erfasst und verfolgt werden (jede akustische Bewegung signalisiert uns eine potentielle Gefahr, je näher desto bedrohlicher empfunden!). Die Bewegung von Klangobjekten ist naturgemäß ein sehr seltener Vorgang in der traditionellen und auch zeitgenössischen Instrumentalmusik (wie sollten sich Musikinstrumente auch bewegen??), ist aber ein beliebtes Ausdrucksmittel bzw. ein beliebter Effekt in der EM und beim Film - man kann sogar sagen, dass dies ein Hauptgrund ist, sich der EM zuzuwenden. Hier wird gelegentlich übermäßiger Gebrauch von durch den Raum rasenden Objekten gemacht - ähnlich den filmischen Übertreibungen, wo kleine Tiere auf der IMAX-Leinwand gigantische und vor allem bedrohliche Ausmaße annehmen.

Man stellt an dieser Stelle fest, dass eine Mehrkanaligkeit für die Darstellung der "kleinen" Bewegungen kaum erforderlich ist und im obigen Sinne nur eine gewisse "Schönung" darstellt. Dagegen sind Aufführungen mit sinnstiftenden Bewegungen genau die, die eine Mehrkanaligkeit brauchen! Das trifft in besonderem Maße für den Film bzw. das Theater und Hörspiel zu! Aber eben auch für das, was oben als "Kino für die Ohren" / "cinema for the ear" bezeichnet wurde, also die EM in seinen speziellen Facetten des Hörspiels, der Filmmusik und der akusmatischen Musik mit dem Anspruch einer räumlichen Inszenierung. Übrigens hatten räumliche Inszenierungen immer schon große Beliebtheit, man denke an die mehrchörigen Aufstellungen in San Marco in Venedig, oder auch an die szenisch erweiterten Aufführungen am Hofe Ludwig des 14. oder an die szenischen Träume von Berlioz, auch Mahler, ganz zu schweigen von den spektakulären Klang-Inszenierungen in Oper und Theater.

Folgende Aspekte spielen eine prägende Rolle bei "regen" Bewegungen:
Tiefenstaffelung / Entfernung, der sogenannte Dopplershift:


Die Objekte ändern ihre Position, sodass auf jeden Fall die akustische und optische Lokalisierung eine Rolle spielt;
für die gute Lokalisierung gilt die Devise: je mehr Lautsprecher desto besser, und zwar für alle drei Dimensionen.

Eine Spezialanwendung stellen Klanginstallationen dar, wo sich die Besucher selbst durch die Lautsprecheraufstellung bewegen können und somit selbst die Lokalisierung beeinflussen: wir sehen unten ein Foto (Roman März) der Arbeit "undefined landscape 2" von Hans Peter Kuhn in der Villa Elisabeth (Inventionen 2008).


die Objekte bewegen sich in verschiedenen Entfernungsbereichen, die jeweils eine bestimmte kommunikative Eigenschaft aufweisen;
durch die Raum-Perspektive finden Bewegungen von nahen Quellen in der Regel schnell und die von fernen sehr langsam statt (das ist ja eines der Entfernungsmerkmale).
Die Entfernungs-Bereiche sind:

Noch eine Nebenbemerkung zum akustischen Horizont in unserer EM:
die Klänge unseres Alltags-Horizontes treten tausendfach und aus allen Richtungen mit sehr ähnlichem Charakter auf. Es ist ein Klangerlebnis, das wir etwa beim Betreten eines großen Stadions mit tausenden von Zuschauern (ohne Lokalisierung der Einzelstimmen) wahrnehmen; wir kennen dies auch von einem Waldspaziergang, wo der Wind durch die Zweige und Blätter fegt (wir hören nicht das einzelne Blatt, sondern tausende); wir lieben es, ihm (dem Klang des Horizonts) am Strand zu lauschen, vor einem Wasserfall, einem Feuer: er wirkt sehr räumlich, wir empfinden meistens eine große Klangschönheit, der wir auch lange beruhigt lauschen können. Typisch für diese Klänge ist, dass wir keine einzelnen Klangquellen (Blätter, Wassertropfen, Feuergas) wahrnehmen, sondern die Gesamtheit vieler vieler selbstähnlicher Mikroquellen, die einen sich ständig ändernden und einen niemals gleichen Raumklang bilden. Diesen überwältigenden Höreindruck erlebten übrigens auch die Besucher der Klanginstallation "SoundBits" von Robin Minard, (siehe Foto oben).
Die EM macht einen regen Gebrauch von diesem Effekt, weil er dem Hörer ein vertrautes "schönes" Akustikerlebnis suggeriert. Das zur Zeit etwas modische Werkzeug dazu heißt "Granularsynthese". Und die Beschreibung des seine diskrete Eigenschaft aufgebenden Lautsprechers passt übrigens genau zu einem WFS-Lautsprecher; man kann sagen, dass hunderte von Einzellautsprechern in einem WFS-Array den akustischen Horizont darstellen!

Interessant ist, dass man mit dem Lautsprecher nicht nur den akustischen Horizont, sondern alle genannten Entfernungsbereiche simulieren und gestalten kann und dass natürlich die EM intensiv damit agiert.
(Beispiel siehe Kommentar/Texte Inventionen 2008). Dort werden die vorhandenen Konfigurationen erläutert;
"Übersicht über die gesamte Lautsprecherlandschaft im Wellenfeld-Saal" der TU Berlin, Hörsaal H0104: wir erkennen mehrere Lautsprecher-"Kreise" und die paarweise aufgestellten Lautsprecher des Akusmoniums.
Beachten Sie bitte: die zwei Kreise des TU-Klangdomes bestehen nicht aus acht, sondern aus neun gleichen Lautsprechern (dies ermöglicht die Abbildung von Surroundproduktionen mit Centerkanal!):


das Foto von Th. Schneider zeigt den WFS-Saal bei der Probe (Hans Tutschku); wir sehen an den Wänden das WFS-Band (insgesamt 104 Module mit je 8 diskreten Lautsprecherkanälen, also 832 Kanäle), große Teile des neuen GRM-Akusmoniums (deutlich die vier "Trees" in den Sitzreihen und die roten Kugeln), andeutungsweise Teile der verschiedenen Lautsprecherkreise und die Meyer-MM4 (auf hohen Mikrofon-Stativen montiert).

Die oben beschriebenen Entfernungsbereiche können hier parallel & gemischt & gleichzeitig durch 3 Lautsprecherkonzepte simuliert werden:

Der Nachhall des Aufführungsraumes selbst schränkt die Möglichkeiten der Bereichsdarstellung ein; der hier abgebildete WFS-Saal (immerhin mit 700 Sitzplätzen) hat eine erstaunlich kleine Nachhallzeit von ca. 0,9 sec, sodass er für simulierte Raumabbildungen sehr gut geeignet ist.

Ein weiteres Beispiel eines Akusmoniums zeigt folgendes Bild vom Festival Inventionen 1998 (50 Jahre Musique concrète):


die Nachhallzeit der Parochialkirche Berlin-Mitte ist über 2,8 sec; wir sehen Teile des alten GRM-Akusmoniums, wieder die "Trees", das alte GRM-Mischpult. Der lange Nachhall verhindert eine Simulation kleiner Räume und macht den Gesamtklangeindruck undeutlich!

Ich zeige dieses Bild von der Parochialkirche in Rückbesinnung auf eine bereits oben angedeutete "Wichtigkeit" des Ambientes: das Innere der Kirche sieht nicht gerade wie ein schmucker Konzertsaal aus, der Putz ist bereits von den Wänden, gefallen die elektrischen Stromleitungen und die Beleuchtung sind nicht gerade komfortabel, es zieht, Straßenlärm und die nahe S-Bahn stören -- und doch: wir fühlten uns hier wohler als in der Philharmonie, weil die Gesamtsituation Lautsprecher – Publikum sinnvoller und in eigener Regie frei und unabhängig aufzubauen war (siehe auch Blockschaltbild oben): die Zuhörer sitzen mittig und werden vom Klanggeschehen umkreist; es gibt keine Bühne, kein Parkett, keine "umgekehrte Architektur" (darunter verstehe ich den Normalfall eines Konzertsaales: das Publikum sitzt entweder in festen Reihen vor einer Bühne oder die Bühne befindet sich mittig im Publikum; das Klanggeschehen findet immer vor dem Publikum statt, nicht um das Publikum herum; für diese Aufführungsform hat Luigi Nono geworben - etwa mit der Inszenierung des Prometeo).


Ein weiterer Parameter für das Verständnis von Bewegung ist jener, der in unserer akustischen Alltagswelt permanent wirkt und für den das Gehör eine sehr feine Erfahrung mitbringt: es ist der Dopplershift. Ohne dieses Phänomen wirkt eine Bewegung unnatürlich, auch wenn man noch so viele Lautsprecher einsetzt.

Hören wir in das historisch wichtige EMwerk "Turenas" hinein, in welchem John Chowning im Jahre 1972 neben der FM im Audiobereich erstmals künstliche Hallalgorithmen und Algorithmen zur Beschreibung bewegter Klangobjekte in ein quadrofones Werk hat einfließen lassen:

Tonbeispiel Turenas

Bemerkenswert ist an diesem Beispiel: der Dopplershift dominiert ganz und gar die Bewegungsempfindung!

Chowning hat geschickt den Nachhall für die Entfernungswahrnehmung eingesetzt, indem er gezielt ausgesuchte Klangobjekte ständig aus dem gleichmäßigen Nachhall des fiktiven Raumes heraus- und wieder hineinfahren lässt und somit erst das Gefühl für dessen Größe vermittelt und ein gutes Beispiel auch für die künstliche Darstellung der Tiefenstafflung gibt.

Was wir hier in der Dimension von im Augenblick ablaufender Zeit erleben, nämlich Bewegungen von Klang im Raum, können wir auch auf die Dimensionen langen Zeiterlebens übertragen, etwa wie Elliot Carter angedeutet hat: er beschreibt zeitabhängige Räume der Erinnerungen und damit Räume, in denen sich Werte wandeln durch fortwährende Bewegung.

Folkmar Hein, 26.5. / 4.6.2009