TU-Berlin

Institut für Sprache und Kommunikation

Ausarbeitung :

Das Poème Électronique und der Philips Pavillon

Eingereicht bei: Kees Tazelaar

Im Rahmen der DAAD-Edgar-Varèse-Gastprofessur

Von: Martin Klemmer

martin.klemmer@gmail.com

Matrikelnummer : 199627

Inhaltsverzeichnis

Seite

1. Einleitung

2

2. Der Auftrag

2

3. Der Pavillon

3

4. Die visuelle Umsetzung

5

5. Die Musik

9

6. Schlusswort

12

Literaturverzeichnis

13


1. Einleitung

Im Rahmen der Lehrveranstaltung "Technology and aesthetics of electroacoustic music" wurde über die Geschichte der Elektronischen Musik in den Niederlanden referiert. In diesem Zusammenhang wurde ein Bauwerk erwähnt, welches seiner Zeit in vielen Sachen voraus war. Der Philips-Pavillon.

Der Philips-Pavillon und in diesem Zusammenhang das Poème électronique wird oftmals als erstes multimediales Gesamtkunstwerk bezeichnet. Einerseits fanden hier drei große Künstler zusammen, andererseits kamen verschiedenste Medien zum Einsatz. In der folgenden Ausarbeitung werde ich versuchen, die Entstehungs-geschichte und die damit verbundenen Zusammenhänge und Probleme näher zu erläutern.


2. Der Auftrag

Im Winter 1956 bekommt Le Corbusier (1887-1917), den Auftrag, für den Elektronik-Konzern Philips einen Pavillon für die Weltausstellung 1958 in Brüssel zu entwerfen. Le Corbusier, damals schon 69 Jahre, zählt zu den bedeutendsten Architekten der Moderne. Diese Aufgabe und vor allem die dafür in Aussicht gestellte Infrastruktur, eröffnen für ihn eine Möglichkeit, seine kulturellen und politischen Intentionen einem breitgefächerten Publikum aus aller Welt zugänglich zu machen. Er ist von diesem Auftrag derart fasziniert, dass er dem künstlerischen Direktor der Firma Philips, Louis C. Kallf, den Vorschlag unterbreitet, auch das inhaltliche Konzept des Bauwerks zu kreieren und nicht nur einen bloßen architektonischen Entwurf zu gestalten.

Le Corbusier schlägt Kallf ein Gesamtkunstwerk vor, welches er schon in diesem frühen Planungsstadium als Poème électronique bezeichnet. In seiner Vorstellung soll es sich aus den Elementen Raum, Licht, Bild, Klang, Rhythmus und Farbe zusammensetzten. Für die Realisierung seiner Vorhaben fehlt ihm jedoch noch der Musiker, da er sich für die architektonische und visuelle Umsetzung verantwortlich fühlt. Von Anfang an denkt er an den Komponisten Edgar Varèse (1883-1965), was allerdings ein hartes Ringen und einige schwierige Diskussionen mit der Firma Philips nach sich zieht, weil diese anfänglich den britischen Komponisten Benjamin Briten favorisierte. Dies kommt für Le Corbusier allerdings nie in Frage. Er hält an der Verpflichtung des Klangkünstlers Edgar Varèse fest, woraufhin Philips schließlich einwilligt.

Das Interesse an Varèse besteht jedoch schon etwas länger. Bereits 1951 denkt Le Corbusier daran, Varèse für eine Klanginstallation, anlässlich der Einweihung der Unité d’Habitation in Marseille zu beauftragen 1 , wobei dieses Vorhaben nicht realisiert wird. Für ihn, den Architekten, steht Varèse`s Musik für eine Klangkunst, welche den Drang der technischen Zivilisation zur damaligen Zeit am besten zum Ausdruck bringt.


3. Der Pavillon

Im Zusammenhang mit der Entstehungsgeschichte des Poème électronique erscheint stets ein dritter bedeutender Name: Iannis Xenakis (1922-2001).

In der Zeit zwischen 1948 und 1960 arbeitet Iannis Xenakis als technischer Assistent in Le Corbusier`s Büro. Xenakis studierte in Athen Ingenieurswissenschaften, besaß sehr gute mathematische Fähigkeiten, war aber kein gelernter Architekt. Le Corbusier schätzt allerdings sein Geschick und seine Intelligenz und sieht in ihm einen Mann mit drei Berufen: Ingenieur, Komponist und Architekt 2 . Aus diesen Gründen involviert er ihn in diverse Projekte, teilweise sogar als Projektleiter. Große Anteile hat Xenakis beispielsweise am Chandigarh-Projekt, sowie am Kloster „La Tourette“ (Bild 1), wo er die vertikale Fensterverteilung der Hauptfassade und den Kreuzgang entwirft. Hier bildet der von Le Corbusier 1947 entwickelte Modulor (ein Proportions-System, dass der Architektur eine mathematische Ordnung gab, die an den Körpermaßen des Menschen orientiert ist) ebenso die mathematische Grundlage, wie auch bei dem von Xenakis 1954 komponierten Stück Metastaseis. 3

1 Bienz, Peter, Le Corbusier und die Musik, Braunschweig; Wiesbaden 1998 S. 82

2 Treib, Marc, Space Calculated in Seconds, 1996, S. 15

3 Treib, Marc, S. 15

4 Bienz,Peter, Le Corbusier und die Musik, Braunschweig; Wiesbaden 1998 S. 114

5 Bienz, Peter, Le Corbusier und die Musik, Braunschweig; Wiesbaden 1998 S. 111

6 Treib, Marc, Space Calculated in Seconds, 1996, S. 3

7 De LaMotte-Haber, Helga, Edgar Varèse : 1883-1965, Dokumente zu Leben und Werk, Frankfurt a. M. , 1990, S.101

8 Treib, Marc, S. 121

9 Die Skelettfunde von Cro-Magnon gelten als Prototypen des frühen homo sapiens.

10 Bienz, Peter, S . 100

11 Bienz, Peter, S. 101

12 Bienz, Peter, S. 101

13 Treib, Marc, S. 135

14 Bienz, Peter, S. 102

15 Bienz, Peter, S. 103

16 Treib, Marc, S. 182

17 Treib, Marc, S. 194

18 Treib, Marc, S. 203

Mit dem Stück Metastaseis, welches erstmals 1955 bei den Donaueschinger Musiktagen uraufgeführt wird, gelingt Xenakis der Durchbruch in der internationalen Szene der Neuen Musik. Die Komposition, ein Orchesterwerk für 61 Instrumente, sorgt für viel Aufsehen. Einerseits löst sie einen Skandal, andererseits Jubelstürme aus. Es ist erstmals ein auskomponiertes Glissando. Feste Töne, geschweige denn zusammenhängende Melodien sind nicht mehr hörbar. Die Musik verläuft völlig kontinuierlich. In Metastaseis geht es um den Versuch, „zu beweisen, dass ein menschliches Orchester fähig ist, durch neue Klangwirkungen und Feinheiten die neuen elektromagnetischen Mittel zu überbieten, die es überflüssig machen wollten“ 4 .

Metastaseis findet deshalb an dieser Stelle Erwähnung, da es die Grundlage für das Aussehen des Philips-Pavillons bildet. Es ist quasi Xenakis` architektonische Umsetzung seiner Komposition. Der Zusammenhang wird sogleich deutlich, wenn man einen Blick in die grafische Notierung wirft. (Bild 2 und 3) Man erkennt kontinuierliche Linien bei der Gestaltung der Streicher Glissandi. Sie ähneln den Flächen von hyperbolischen Paraboloiden. Wenn man sich diese Linien dreidimensional umgesetzt vorstellt, ergeben sich die kontinuierlich verlaufenden Wandflächen des Pavillon.

Xenakis ist es auch, der die ersten Modelle des Pavillons aus Klavierseiten baut und später mit den Ingenieuren und Architekten der Firma Strabed den Bau koordiniert.

Le Corbusier ist in der Zeit der Planungs- und Bauphase sehr viel mit anderen Projekten beschäftigt und im Rahmen dieser oft in Indien.

Als es am Ende der Bauphase um die Verteilung der Urheberrechte geht, kommt es zwischen Le Corbusier und Xenakis zum Streit 5 . Dieser wirkt sich auch auf die spätere Zusammenarbeit beider aus.

Auslöser des Konflikts ist allerdings die Tatsache, dass Le Corbusier den Entwurf und dessen Umsetzung als seine alleinige Arbeit darstellen will.

Daher ist es von Bedeutung zu erwähnen, das Iannis Xenakis, bis auf ein paar anfängliche flüchtige Skizzen, den Pavillon weitgehend selbst entworfen hat.


4. Die visuelle Umsetzung

Von Anfang an, ist es allerdings Le Corbusiers spezielles Anliegen, mit dem Poème électronique ein Gesamtkunstwerk zu schaffen, dass sich aus einer architektonischen, einer visuellen und einer musikalischen Komponente zusammensetzt.

Le Corbusier hat sein ganzes Leben lang versucht, mit seinen Gebäuden, Skulpturen und Bildern einen Beitrag zur Bewältigung des 20. Jahrhunderts zu leisten. Er hatte die Hoffnung, mit dem Poème électronique eine noch wirksamere Möglichkeit zu finden, sein Weltbild zu äußern. Doch worin besteht nun sein Anteil an dem Werk ?

Le Corbusier schreibt zum Einen das Drehbuch für die audiovisuelle Darbietung, zum Anderen gestaltet und wählt er die Bilder für diese aus.

Le Corbusier`s Grundgedanke war die Darstellung der Evolutionsgeschichte der Menschheit, mit einem Blick in die Zukunft.

Entgegen seiner ursprünglichen Pläne, entscheidet er sich dafür, das Poème électronique als Werk ohne Worte wirken zu lassen. Damit umgeht er sehr elegant das Problem der Verständlichkeit gegenüber einem internationalen Publikum.

Es gibt vier visuelle Komponenten:

1. den „Film“, der den Ablauf der menschlichen Zivilisation und gleichzeitig die Bedrohung durch diese darstellt
2. farbiges Licht, um die Atmosphäre und die Stimmung zu beeinflussen
3. einfache geometrische Formen, die mit Hilfe von Projektoren über den Film gelegt wurden
4. dreidimensionale Formen, die mit Hilfe von UV-Licht beleuchtet wurden

Genaugenommen besteht der „Film“ nur aus sehr wenigen wirklichen Filmsequenzen. Neben den sehr schnell wechselnden schwarz-weiß Fotografien, bilden Projektionen, die Le Corbusier zusammenstellte, den Schwerpunkt des Poème électronique. Die Filmmontage realisiert der Filmregisseur und Kameramann Philippe Agostini, arrangiert wird sie durch Jean Petit 6 .

Gleichzeitig wechseln während der genau 8-minütigen Vorstellung fortlaufend die Farben im Pavillon. Diese Farbwechsel waren von Le Corbusier im Drehbuch sekundengenau geplant und wurden durch verschiedenfarbige Neonröhren realisiert, die sich hinter einer ca. einem Meter hohen Balustrade befanden, welche sich durch den gesamten Randbereich des Innenraums zog. Hinter dieser Balustrade befanden sich unter anderem die Basslautsprecher.

Insgesamt dauert das Poème genau 480 Sekunden und ist in sieben Sequenzen aufgeteilt.

Die erste Sequenz, Genesis, dauert genau 60 Sekunden und beginnt mit der Beleuchtung der an der Decke hängenden Objekten, ein mathematisches Objekt und eine weibliche Schaufensterpuppe. „Die rot aufleuchtende nackte Frau sollte den Besucher daran erinnern, dass die Materie weiblich sei und das blau-grüne geometrische Gebilde symbolisiert den Geist, der von Le Corbusier als das männliche Pendant gedacht war.“ 7

Aus der Dunkelheit heraus erscheinen farbige Flächen, gefolgt von grauen Punkten auf einem neblig erscheinenden Untergrund, welche wahrscheinlich das Universum und somit den Ursprung allen Lebens darstellen sollten. Es folgen Bilder eines Stiers und eines Toreros, welche vielleicht die unterschiedlichen Kräfteverteilungen in der Natur und auch den Kampf mit dieser symbolisieren könnten.

Den Schluß der ersten Szene bildet eine Filmsequenz. Hier sieht man eine Frau, die aus dem Schlaf erwacht und sich dann über etwas Unbekanntes zu erschrecken scheint. Dies „....erinnert an klassisches surrealistisches Kino“ 8 , kann allerdings auch das Erwachen der Menschheit symbolisieren.

Die zweite Sequenz, Matter and Spirit, dauert ebenfalls 60 Sekunden und verweist auf die unterschiedlichen Stationen der Evolution. Hier sieht man unterschiedliche Schädelformen sowie das Skelett von Cro-Magnon. 9 Als nächstes werden vier Männer gezeigt, die wie Wissenschaftler anmuten, die etwas untersuchen. Es folgt das Bild einer afrikanischen Frau mit traditionellem Kopfschmuck, was, wenn man es in Zusammenhang mit den vorher gesehenen Wissenschaftlern bringt, eine Gegenüberstellung von hochentwickelter Gesellschaft und naturverbundenen Naturvölkern zeigen könnte. Bilder von Figuren früherer Kulturen, ein Dinosaurierskelett, sowie Fotos von verschiedenen Affenarten beenden die zweite Sequenz.

From Darkness to Dawn, die dritte Sequenz, dauert eine Minute und 24 Sekunden und wird am Anfang von verschiedenen Köpfen und Augen dominiert. Zuerst spielt er mit unterschiedlichen Nahaufnahmen von den Augen einer Eule und kommt dann über die Bilder eines Truthahns zu Hühnern, was vielleicht das Bestreben des Menschen darstellt, die Natur zu zähmen.

Es folgen neben Bildern von bedrohlich wirkenden Gottheiten und Kriegern aus anderen Kulturen auch Aufnahmen von Konzentrationslagern und Kriegsspielzeug, was sicherlich das „enorme Aggressionspotential der Gattung Mensch“ 10 darstellen soll. Danach erscheinen unterschiedliche religiöse Motive, die den Glauben als persönliche Alternative darstellen könnten. Vielleicht auch die Religion an sich in ihrer tröstenden Funktion.

Die vierte Sequenz, Manmade Gods, dauert nur 35 Sekunden und befasst sich mit Kult und Religion. Es werden verschiedene Götterbilder und Kultobjekte unterschiedlicher Religionen nebeneinander dargestellt.

How time molds civilization, die fünfte Sequenz, dauert eine Minute und grenzt sich durch eine Zäsur deutlich von der vierten ab. Der Pavillon ist in helles Licht getaucht.

Es folgen typische Bilder des 20. Jahrhunderts, wo die Technologie ihren Einzug hält. Aufnahmen von einfachen Bauern mit Kühen bei der Feldarbeit bilden einen Kontrast zu Teleskopen, Astronauten, Wissenschaftlern oder Ärzten, was sicher die Tatsache darstellen soll, wie der Mensch sich die errungenen Technologie positiv zu Nutzen macht.

Im nächsten Augenblick erinnert Le Corbusier mit Bildern von Atombombenexplosionen, wolkenverhangenem Himmel und Raketen auch an die dunklen Seiten des Fortschritts. Zwischen diesen Aufnahmen zeigt er immer wieder Bilder „von ängstlichen Kindergesichtern, die ihre Zukunft durch das gewissenlose Verhalten der Elterngeneration bedroht sehen.“ 11

In der sechsten Sequenz, Harmony, die genau eine Minute dauert, zeigt sich eine optimistische Vision der Welt. Kriegsbilder gehören nun der Vergangenheit an. Vielmehr sieht man, wie die Menschen die Maschinen in positiver Weise nutzen.

Verschiedene Teile, wahrscheinlich aus Maschinen oder anderen technischen Geräten werden abwechselnd gezeigt. Bilder von Chaplin und Laurel & Hardy tauchen auf. Man könnte meinen, sie erfreuen sich an der nun sinnvollen Nutzung der Technik. Abbildungen verschiedener Galaxien erscheinen und an den Wänden des Pavillon sind Sternbilder erkennbar, die von kleinen Glühbirnen simuliert werden. 12 Ein positiver Glaube an die Zukunft ist wohl in dieser Sequenz deutlich erkennbar.

Die letzte Sequenz, To all mankind, ist mit zwei Minuten die längste von allen. Nun würde man bei solch einer Präsentation, die es ja nun einmal für den Konzern Philips bestimmt ist, erwarten, dass im letzten Teil die notwendige Publicity dem Konzern zukommen würde. Nicht so im Fall des Poème électronique. Hier gilt die Werbung nicht Philips, sondern dem Architekten selbst. 13 In dieser Sequenz ruft der Architekt seine eigenen Arbeiten ins Gedächtnis, beispielsweise die Häuserblöcke von Nantes und Marseille, die Wolkenkratzer in Algier oder aber den High Court in Chandigarh. Diese Werke verkörpern nicht nur sein eigenes Lebensziel, sondern können auch als Bild für eine Welt verstanden werden, „in der alle Menschen ihren eigenen Grundbedürfnissen gemäß, unter Verzicht auf architektonische Repräsentation, leben können.“ 14

Hier wird auch der von Le Corbusier entwickelte Modulor einmal gezeigt. Zum Schluss folgen noch einmal Bilder von Menschen verschiedener Schichten: eine alte Frau, ein Kind, Menschen an einer Tafel, ein schlafender Mann, Babys.

Das Schlussbild zeigt ein Baby in Nahaufnahme, welches von seiner Mutter gehalten wird, die rechterhand im Bild auch noch zum Teil zu sehen ist. Anhand dieser letzten Bilder ist ein optimistisches Ende wohl nicht verkennbar.

Eine wesentliche Komponente wurde bis jetzt noch nicht betrachtet.


5. Die Musik

Wie anfänglich schon erwähnt, war es für Le Corbusier als Auftragnehmer nicht einfach, Philips davon zu überzeugen, dass der Avantgarde Komponist Edgar Varèse der richtige Mann für dieses Projekt war.

Letztlich ist es auch Xenakis, der während der Kompositionsphase Louis C. Kalff gegenüber immer wieder Varèses Position stärkt.

Varèse, der zunächst Mathematik und Naturwissenschaften studierte, absolvierte danach ein Musikstudium in Paris und genießt zu diesem Zeitpunkt bereits hohes Ansehen in der internationalen Szene der Neuen Musik.

Ihm ist am Anfang nicht klar, in welche Richtung die Vorstellungen aller Beteiligten, auch seine eigenen, bezüglich der musikalischen Komponente gehen sollten.

Ein Treffen mit Le Corbusier und Xenakis gibt ihm Aufschluss über die technischen Möglichkeiten: über 300 Lautsprecher innerhalb des Raumes verteilt und die Möglichkeit, diese auf verschiedenen Soundwegen anzuordnen und vor allem auch anzusteuern, bilden eine technische Voraussetzung, die in dieser Form nie einem Komponisten zur Verfügung stand.

Als Vorlage für die spätere Komposition dient Varèse das von Le Corbusier geschriebene Drehbuch, welches den Ablauf im Sekundenraster festhielt.

An dieser Stelle sei erwähnt, dass die Idee, den Klang auf verschiedenen Wegen durch den Raum wandern zu lassen, von Le Corbusier stammte. 15

Die insgesamt neun Monate andauernde Arbeit an der Komposition, findet im Philips-Studio in Eindhoven statt. Varèse bekommt von Philips den Ingenieur W. Tak zur Verfügung gestellt, der mit der vorliegenden Technik vertraut ist und Philips über den Verlauf der Arbeit berichten soll. Wenn man bedenkt, dass Varèse zu diesem Zeitpunkt bereits 75 Jahre alt ist, ist es umso erstaunlicher, wie schnell er die klangerzeugenden Geräte zu bedienen wusste. Trotzdem ziehen sich die Aufnahmen unendlich in die Länge. Nach viereinhalb Monaten ist gerade einmal eine Minute, von insgesamt acht, fertiggestellt. Die Arbeitsweisen von Varèse und Tak scheinen sich zu unterscheiden wie Tag und Nacht. Eine Anekdote beschreibt Tak wie folgt: Eines Tages, nach etlichen Stunden erfolglosen Suchens nach einem bestimmten Sound , öffnete sich die Studiotür mit einem Quitschen. Plötzlich schrie Varèse: „Das muß ich haben.“ 16

Die Direktoren von Philips, die Varèses Musik von Anfang an nicht für geeignet hallten, werden wegen der so langsam voranschreitenden Arbeit unruhig und beauftragen sogar einen zweiten Komponisten, namens Henri Tomasi. Das Stück wird nur einmal, im Frühjahr 1958, im Beisein von Le Corbusier und Xenakis aufgeführt. Alle Beteiligten, sogar die Philipsbeauftragten befinden es jedoch für inakzeptabel. 17

Das schließlich doch rechtzeitig vollendete Werk weist eine unglaubliche Vielzahl an Klängen auf. Neben dominierenden, aus Tongeneratoren erzeugen elektronischen Sounds verwendet Varèse beispielsweise Glockenklänge, Schlagzeugeffekte, Geräusche ähnlich derer in Fabrikhallen, Motorengeräusche, gefilterten Gesang oder Sirenengeräusche. Aus dieser großen Vielfalt erzeugt er durch erneutes Zusammenmischen und verschiedenste Kombinationen wiederum neue Klänge.

Die Aufnahme befindet sich auf einer Spur, eine zweite und eine dritte ist für Reverb und Stereoeffekte vorgesehen. Ein zweites Band, mit 15 Spuren, ist dazu da, die Verteilung der Sounds auf die mehreren hundert Lautsprecher zu kontrollieren (Bild 4).

Wie man auf Bild 5 sehr gut sehen kann, sind einige Klangwege auch auf paraboloiden Bahnen angeordnet.

Eine der interessantesten Tatsachen ist jedoch, dass es zwischen Le Corbusier und Varèse während ihrer Arbeit keinerlei Kooperation gibt. Beide arbeiten ohne größere Absprachen völlig unabhängig voneinander. Es gibt zwar immer wieder Vermutungen über eine Koordination zwischen Bildfolge und Sound, aber keine konkreten Aussagen. Der Schluss beispielsweise lässt eher eine unverbindliche Zusammenarbeit vermuten, da die Bilder von Babys wohl kaum zu Düsenjäger - oder Sirenengeräuschen passen.

Wenn man die Musik betrachtet, tritt auch Iannis Xenakis noch einmal in das Licht des Interesses. Er ist es, der die Musik komponiert, die zwischen den Aufführungen des Poème zu hören ist. Das zweiminütige Stück trägt den Namen Concret PH.


6. Schlusswort

Insgesamt gibt es ca. 2 Millionen Besucher, die während der sechs Monate andauernden Weltausstellung den Pavillon besichtigen. Das Publikum ist begeistert von dieser neuartigen Verbindung aus Farbe, Bild, Licht, Klang und Raum. Etwas Vergleichbares gab es bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Leider wird der Pavillon nach der Weltausstellung abgerissen und ist heute fast völlig in Vergessenheit geraten.

Bis vor kurzem erinnerten nur ein paar Fotografien, eine Stereofassung der Musik, einige Skizzen, ein paar Bücher und eine Videoaufnahme an dieses großartige Kunstwerk. Umso interessanter ist es, dass eine virtuelle Nachbildung, das Virtual Electronic Poem, von verschiedenen europäischen Universitäten rekonstruiert wurde. Dieses Projekt wurde erstmalig auf der ICMC (International Computer Music Conference) im September 2005 in Barcelona präsentiert. Entwickelt wurde es von folgenden Universitäten: Virtual Reality And Multi Media Park (Turin, Italien), University of Bath (England), Technische Universität Berlin (Deutschland), Silesian University of Technology (Gliwice, Polen).

Des Weiteren gibt es eine 6-Kanal-Fassung von Kees Tazelaar, die auf Grundlage der Originalbänder aus dem Institut für Sonologie Den Haag geschaffen wurde.

Anhand dieser Sachverhalte ist erkennbar, dass auch heute noch Künstler, Komponisten und Wissenschaftler dieses Werk würdigen.

Im Hinblick auf die Geschichte der elektronischen Musik, genießt Edgar Varèse mit seiner Komposition noch heutzutage den Ruf als Pionier.


Literaturverzeichnis

Bienz, Peter, Le Corbusier und die Musik, Braunschweig; Wiesbaden, 1998

De la Motte-Haber, Edgar Varèse : 1883-1965. Dokumente zu Leben und Werk, Frankfurt am Main, 1990

Treib, Marc, Space Calculated in Seconds – The Philips Pavilion, Le Corbusier, Edgar Varèse, Princeton, 1996